(01.02.2016) Aachen. Was ist aus den Eltern, Kindern, Geschwistern geworden? Die Suche nach verschollenen Familienangehörigen bewegte nach den beiden Weltkriegen viele Menschen. Auch wenn manchmal immer noch Enkel der Kriegsgeneration nach ihren Großvätern suchen, hat das Problem längst eine neue Aktualität bekommen. Viele der Flüchtlinge, die zurzeit in Europa Zuflucht suchen, haben auf der Flucht ihre Angehörigen verloren. Arina Pyrlik ist zuständig für den Suchdienst beim Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) der Städteregion Aachen sowie der Städte Düren, Jülich und Heinsberg. In der Mehrzahl wenden sich inzwischen Menschen an den Suchdienst, die während der Flucht von ihren Familien getrennt wurden – darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche. Seit 26 Jahren ist Arina Pyrlik (64), die selbst einst als Aussiedlerin mit Mann und Tochter aus Kattowitz nach Deutschland kam, beim DRK im Einsatz. Hier hat sie zunächst polnische und russische Spätaussiedler beraten. Dann wurden ihre Pflichten um den internationalen Suchdienst erweitert. Die Kernaufgabe des DRK-Suchdienstes, der Menschen zusammenführen will, wo Kriege und Naturkatastrophen Familien von einander getrennt haben, ist geblieben. Wir sprachen mit Arina Pyrlik über die neue Situation.
Der Schwerpunkt Ihrer Arbeit hat sich inzwischen ziemlich verändert, nicht wahr?
Pyrlik: Die modernen Kriege und Katastrophen unserer Zeit beschäftigen den Suchdienst sehr stark. Wir arbeiten dabei eng mit dem Internationalen Rotkreuz- und dem Rothalbmond-Netzwerk zusammen. Zuletzt waren es die Erdbebenopfer in der Türkei, die unsere Hilfe in Anspruch genommen haben. Jetzt sind es eher die Flüchtlinge.
Wie hat man sich Ihren Einsatz für Flüchtlinge praktisch vorzustellen?
Pyrlik: Alle Flüchtlinge, die in der Region leben und den Kontakt zu ihrer Familie verloren haben, können sich an uns wenden.
Wer informiert Sie, und wird das Angebot angenommen?
Pyrlik: Die Sozialarbeiter geben diese Information weiter und begleiten die Menschen, oft zusammen mit einem Dolmetscher. Die Zahlen steigen deutlich.
Wer kommt zu Ihnen?
Pyrlik: Das sind häufig Kinder, 14, 15, 16 Jahre alt, die natürlich Heimweh haben, die ihre Eltern und Geschwister suchen und Kontakt aufnehmen möchten.
Woher stammen diese jungen Leute?
Pyrlik: Sie kommen aus Afghanistan, dem Irak und Iran, aus Syrien, viele aus Nordafrika, Mali, Gambia, Guinea. Sie wohnen entweder in Heimen, die ja aber inzwischen größtenteils überfüllt sind. Manche leben in kleinen Wohngemeinschaften, und die Betreuer nehmen Kontakt zu uns auf. Einige von ihnen haben eine richtige Odyssee hinter sich. Ein Junge aus Mali hat zum Beispiel eine Flucht über Algerien, Marokko, Spanien, Frankreich und Belgien hinter sich. Jetzt ist er in Deutschland.
Warum gibt es so viele unbegleiteten Jugendliche?
Pyrlik: Sie verlieren ihre Verwandten auf den häufig sehr langen Fluchtwegen durch verschiedene Länder. Ich habe zum Beispiel den Fall eines 14-Jährigen aus Afghanistan, der seine Schwester sucht. In Griechenland wurde Tränengas gesprüht, Hunderte Flüchtlinge gerieten in Panik, und seine Familie war plötzlich weg. Eine andere afghanische Familie hat ihn mitgenommen nach Aachen, wo er dann allein blieb.
Kommt es oft vor, dass sich Familien in Deutschland wiederfinden?
Pyrlik: Das kann schon gelingen. Wir haben zum Beispiel Plakate mit den Fotos von Jugendlichen und Kindern angefertigt, die man im Internet, aber auch im DRK-Kleiderladen sehen kann, dort kommen ja viele Flüchtlinge hin. Auf dem Plakat sind nur Gesichter zu sehen, keine Namen, Nummern und die knappe Information, ob zum Beispiel Mutter, Vater, Bruder oder Schwester gesucht werden.
Was müssen Sie für einen Suche in die Wege leiten?
Pyrlik: Natürlich gehören stets Formulare zu einer Suche, aber selbst das ist inzwischen sehr kompliziert geworden. Bei bestimmten Ländern müssen wir uns zusätzlich an besondere Regeln halten.
Wo zum Beispiel?
Pyrlik: Etwa, wenn wir Verwandte eines Jugendlichen in Afghanistan suchen. Wir dürfen in den Antrag nicht die Mutter als Hauptperson schreiben, denn Frauen haben dort keine gesellschaftliche Relevanz. Stattdessen müssen wir einen männlichen Verwandten nennen, und sei es der kleine siebenjährige Bruder oder ein Onkel. Die Mutter darf allenfalls als Begleitperson genannt werden.
Wie finden Sie denn überhaupt etwas heraus?
Arina Pyrlik: Da muss ich mir im Gespräch schon etwas einfallen lassen. Ich frage zum Beispiel, wie groß das Dorf war, wie viele Häuser es gab, welche Farbe das Elternhaus hatte, ob vielleicht eine größere Stadt in der Nähe ist, ob es in dem Ort eine Moschee mit einem Imam gab, der die Familie kennt, oder eine Schule. Manchmal machen wir sogar eine Skizze. All das schreibe ich in den Antrag, der vom Suchenden und bei Minderjährigen auch vom Betreuer unterschrieben werden muss. Das Ausfüllen eines solchen Antrags kann bis zu zwei Stunden dauern. Bei Ländern wie Afghanistan muss zusätzlich eine Kurzform des Antrags in arabischer Sprache ausgefüllt werden. Dort gibt es auch ein freies Feld für eine Familiennachricht, die der Jugendliche selbst in seiner Muttersprache schreiben kann, sowie ein Blatt für eine Antwort des Angehörigen.
Kommt etwas zurück?
Pyrlik: Im Idealfall kommt dieses Blatt mit einer Botschaft der Angehörigen, im besten Falle der Mutter, zurück zu uns. Wenn nach zwei Jahren ohne Kontakt so ein Brief bei den Jugendlichen eintrifft, fließen die Tränen, manche können gar nicht mehr sprechen. Die haben ja großes Heimweh.
Ist die Arbeit vor Ort gefährlich?
Pyrlik: Es hat bereits Angriffe und Zwischenfälle gegeben. In Syrien können wir im Moment wegen des IS-Terrors gar nicht suchen. In Afghanistan ist es besonders schwer. Die Ermittler gehen von Haus zu Haus und stellen Fragen, das ist unter Umständen sehr gefährlich. Hier sind nur Mitarbeiter unterwegs, die schon länger im Land sind, die die Sprache sprechen. In den afrikanischen Ländern ist die Situation sehr unterschiedlich.
Welche Probleme tun sich auf?
Pyrlik: Es gab viele Anfragen, aber ohne Angaben, ohne Daten kann ich einfach keinen Antrag weiterleiten. Ein Jugendlicher war so traumatisiert, dass er außer seinem Namen nichts mehr wusste.
Wird der Kontakt von den Angehörigen manchmal verweigert?
Pyrlik: Das gibt es. Die Mutter eines Jugendlichen, die wir in Belgien ermittelt haben, hat den Kontakt abgelehnt. Wir vermuten, dass sie psychisch krank ist. Aber es gibt auch andere Fälle. Das ist schmerzlich für die Jugendlichen.
Haben Sie den Eindruck, dass die Zahl der Suchenden steigt?
Pyrlik: Das vergangene Jahr stand bei uns eindeutig unter dem Motto „Flüchtlinge suchen einander“. Die Suche in Europa wird immer intensiver.
Weitere Informationen und Kontakte
Regional ansprechbar beim DRK Kreisverband Städteregion Aachen, Robensstraße 49, 52070 Aachen, ist Arina Pyrlik, ☏ 0241/ 1802525;
E-Mail: arina.pyrlik@drk.ac
In der Zeit von 2010 bis 2015 wurden 202 Anträge bearbeitet (Zweiter Weltkrieg, Spätaussiedler, Internationale Suche), davon 24 Fälle von Flüchtlingen allein in 2015. 30 Prozent aller Fälle wurden gelöst.
Weitere Informationen beim Bundesverband: www.drk-suchdienst.de; hier gibt es den Link: Trace the Face – Migrants in Europe mit zahlreichen Fotografien von Migranten, die Angehörige suchen und der jeweiligen Kontaktmöglichkeit.
Onlineformulare in deutscher und englischer Sprache gibt es für die Suche „Zweiter Weltkrieg“, „Spätaussiedler“ und „Internationale Suche“.
Quelle: Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten vom 01.02.2016